Reijevic betrat das Zimmer. Die Wände waren kalkweiß, es gab weder Fenster, noch Bilder, nur ein schmuckloses Metallgestellt, was wohl ein Bett darstellen sollte, und ein Waschbecken. Eine kleine Tür führte zur Toilette. Der Arzt schloss leise die Tür hinter sich, nachdem er sich einen Stuhl von draußen mit in das Zimmer geholt hatte. Ein leises Knistern ging von der Kerze aus, die auf dem Waschbeckenrand stand und eintöniges, schwaches Licht spendete. Die Frau, die in dem Bett lag, schlief. Reijevic zog den Stuhl zu ihrer Seite und setzte sich mit ernstem Gesicht darauf. Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Ernst und großer Besorgnis. Doch er würde warten bis sie erwacht war.
Verstört öffnete sie die Augen. Als sie den Arzt zu ihrer Seite bemerkte, klärte sich ihr Blick jedoch und sie griff mit schwacher Hand seinen Arm. Kalter Schweiß lag darauf und auf ihrer Stirn. „Doktor Reijevic?“ flüsterte sie mit brüchiger Stimme. Der Angesprochene nickte und gab ihr ein Glas Wasser, welches sie gierig trank. „Es… es ist so gut, euch noch zu sehen. Ich muss euch warnen. Euch und die Menschen!“ sagte sie zittrig. Reijevic schüttelte langsam den Kopf und legte seine Hand auf ihre Stirn. „Sprecht nicht, Miriam. Euer Körper ist geschwächt und-“, doch er wurde von ihr unterbrochen. „Ich weiß. Und dass ich sterbe, weiß ich auch.“ Sie lächelte matt, zu seiner Verwunderung. „Ich hatte… ich hatte zu viel mit ihm zu tun.“ Ein Hustenanfall schüttelte den dürren Körper der Frau. Reijevic nickte jedoch und hörte sich an, was sie ihm zu sagen hatte. Miriam legte den Kopf zurück in das Kissen. „Sarajevo war sein Name. Und ich habe einen Fehler gemacht – ich habe mich in ihn verliebt. Doch…“ Sie schöpfte kurz Atem, „da wusste ich ja auch noch nicht, was und wer die Myriad sind.“ Ihre Augen wurden groß bei dem Namen und ihr Gesicht schlagartig noch blasser, also weiß. Reijevic lauschte ihr weiter. „Sie… sehen aus, wie Menschen. Er auch. Vielleicht stattliche 1,90 Schritt groß… ungefähr. Ein…kräftiger und aufrechter Körperbau. Er wirkt… imposant… einnehmend… ich kann es nicht so recht beschreiben.“ Miriam schloss kurz die Augen. Sarajevos Bild in ihrem Kopf würde sie nie vergessen, weshalb ihr die Beschreibung auch nicht schwer fiel. Sie sprach weiter, die Augen immer noch geschlossen. „Seine Haare sind dunkelbraun. Er hat sie zu einem hüftlangen Zopf gebunden, welcher von Lederbändern umwickelt ist. Sein Gesicht ist sehr… einprägsam. Irgendwie… kantig. Und unrasiert. Eine lange Narbe zieht sich von der rechten Stirnhälfte über das Auge bis in Mundwinkelhöhe. Aber… wenn er die Augen öffnet… diese… tiefbraunen, ja fast schwarzen Augen.“ Sie seufzte kurz. Wie oft war sie in diesen Augen versunken! „Seine Kleidung variiert. Als… ich ihn das letzte Mal gesehen habe, trug er aber eine Weste und… seltsame, schwarze Schuhe mit Stahlkappen. Doch die Waffen, die hat er immer bei sich.“ Reijevic wurde jetzt hellhörig. „Waffen? Beschreibt sie bitte näher, Miriam.“, bat er. Die Frau mit den eingefallenen Gesichtszügen nickte schwach. „Teufelswaffen. Myriadwaffen. Er hat zwei Kentemen und ein Machira.“ Sie öffnete die Augen und sah ihn mit überraschend klarem Blick an. „Die Kentema ist eine Waffe, wie sie nur wenige Leute zu führen wissen. Aber Sarajevo ganz gewiss. Eine etwa 75 cm lange Dreikantspitze mit ausgearbeiteten Schneiden in langgezogener Tropfenform an einem gleich langen, verstärkten, schwarzen Bambusstab mit eisernem Ende.“ Sie machte wieder eine Atempause. „Die Machira ist ein Stoßschwert beziehungsweise überlanger Dolch… mit langgezogener, tropfenförmiger Klinge und kleiner Parierscheibe – die übliche Seitenwaffe der Myriad.“ Dann wurde sie wieder still. Nach einigen Momenten des Schweigens fragte der Arzt: „Woher wisst ihr soviel über die Myriadwaffen? Ich kenne dieses Volk nicht einmal.“ Miriam lachte leise, ein unschöner, trockener Laut. „Ich habe sie studiert. Das wenige Wissen über sie zusammengetragen. Und wisst ihr wieso? Weil sie gefährlich sind.“ In ihren Augen flackerte es angstvoll auf. „Sie fressen. Sie fressen unsere Lebensenergie. Man fühlt sich schwach… immer schwächer… am Anfang merkt man es nicht. Aber glaubt mir, ich habe 3 Jahre den Kontakt zu einem Myriad gesucht… und seht, was aus mir geworden ist.“ Reijevic nickte traurig. „Sie rauben uns natürlich nicht permanent unser Leben. Nein, es muss schon durch… engen Körperkontakt geschehen.“ Tränen füllten sich in ihren Augen. Eigentlich ein Wunder, betrachtete man ihren ausgetrockneten Körper und die spröden, aufgesprungenen Lippen… „Und sind dabei nicht einmal in der Lage, so etwas wie… Liebe… zu fühlen. Oh, sie sind nicht gefühlskalt, das stimmt nicht. Aber sie verachten alle anderen Wesen. Und dennoch…“, Miriam hustete kurz, „Zu Verbindungen oder Freundschaften untereinander kommt es noch weniger. Warum, das müsst ihr sie selbst fragen.“ Die junge, todkranke Frau erhob sich von ihrem Sterbebett und setzte sich auf. „Wisst ihr wo sie herkommen?“ „Nein.“ „Aus dem Meer. Sie kommen aus den tiefsten Schwärzen des Ozeans, die Myriad. Oh ja. Und sie sehen uns zum Verwechseln ähnlich. Niemand kann einen Myriad von einem Menschen unterscheiden, niemand! Sie streifen als eiskalte Killer durch die Gegenden… oder... oder… als Taschendiebe, Fälscher, was weiß ich… sie vereinen all das in sich, all die Sünde, vor der wir Menschen zurückweichen. Ich glaube… sie sind deshalb so skrupellos, weil sie kein Gewissen haben. Auf jeden Fall nicht das, was wir als Gewissen bezeichnen würden.“ Sie kniff die Augen zusammen. „Doktor… ich weiß, wie ihr einen Myriad erkennt… bitte hört mir jetzt genau zu… es ist wichtig, und bewahrt vielleicht viele Menschenleben vor der Verderbnis. Sarajevo selbst hat es mir gezeigt – natürlich tat er das nicht mit Absicht. Die Myriad stammen aus dem Meer. Niemand weiß, wie sie wirklich aussehen, wirklich wie Menschen oder ob das nur eine Maske ist. Aber im Wasser liegt die Antwort.“ Ihre Stimme wurde immer leiser, aber beeindruckend fest. „Das Wasser soll dein Spiegel sein, erst wenn es glatt ist wirst du sehen, wieviel Märchen dir noch bleibt und um Erlösung wirst du flehen.“ Reijevic erschrak bis auf den Grund seines geschwärzten Herzens. Er stand entrüstet auf und zog die Machira, die er unter seinem weißen Mantel die ganze Zeit über versteckt gehalten hatte. Doch Miriam wirkte nicht überrascht, sie blieb unendlich ruhig. „Du weißt schon zu viel, dumme Frau. Viel zu viel!“, zischte er und schnitt ihr mit einem raschen Hieb die Kehle durch. Leise fiel ihr schlaffer Körper zurück ins Bett und sackte unförmig zusammen. Das weiße Bettzeug färbte sich rot. Reijevic wischte das Blut von seiner Machira an dem Laken ab und warf noch einen verständnislosen Blick auf Miriam. „Du wusstest also, dass du stirbst.“, sagte er verachtend, „nun, dann hast du soeben die letzten Augenblicke deines Lebens verspielt.“ Der Myriad machte auf dem Absatz kehrt. Bevor er das Zimmer verlies, nahm er die Kerze und lies sich achtlos auf das Bett fallen.
Er war schon lange weg, als der Brand registriert wurde.
Der schwarze Ozean
Tief. Endlos tief. Hinter weißen Bergen mit grauem Forst und einsamen Fjorden liegt ein Meer, so still und alt. Wenige Wellen beleben die dunkle Oberfläche und nicht einmal die Sonne kann ihre Pracht darin spiegeln, verschwimmt zu einer blassen Scheibe. Mir ist kalt… so kalt… Die Seevögel wagen es selten, die Stille zu durchbrechen und ein hohler Möwenruf hallt wie ein Schrei über das schwarze Wasser. Tief, endlos tief, tiefer als je ein Gedanke vordringen wird, reicht dieser Ozean in den Schlund der Hölle. Fischer gibt es hier schon lange nicht mehr und nur Forscher, Abenteurer und Verrückte wagen sich hier hinaus – dort, wo ein Sturm ohne Flut tobt. Immer. Tag für Tag, Nacht für Nacht. Vereinzelt ragen kahle Felsinseln aus der Dunkelheit, bewohnt einzig von den Geistern der Ertrunkenen, die man Nachts hören kann, wie sie heulen wenn der Wind pfeift. Nur ein Meer von solcher Schwärze kann eine Rasse gebieren, deren Seelen so verdorben sind, wie die Königin der Pestilenz. Von hier stammen die Myriad.
Die Seelen der Tiefe Sie sind den Menschen so ähnlich und doch unterscheiden sie sich so sehr voneinander, wie keine anderen Rassen der Erde. Sie bluten – wie wir. Sie werden alt – wie wir. Sie sehen aus – wie wir. Doch sie bluten – aus anderen Wunden. Doch sie werden alt – ohne zu ergreisen. Doch sie sehen uns so ähnlich – die Myriad. Es ist gelogen, wenn gesagt wird sie hätten weder Herz noch Seele, weder Geist noch Verstand. Ihre Seele ist ein Loch ohne Gewissen. Sie fühlen wie jedes andere Herz und spüren dennoch keine Reue, kein Scham, kein Mitleid. Vielleicht konnten sie einst lieben, doch sie haben es verlernt, abgestumpft und leer sind ihre Sinne für das Schöne. Es stimmt nicht, dass ihr Herz voller Gier, Hass und Mordlust, voller Rache, Blutdurst und Schandtaten ist. Doch was bei uns Sünde, ist bei ihnen Gesetz. Was bei uns erschreckend, ist für sie hilfreich. Sie nutzen aus, was uns der menschliche Geist verbietet. Wir können die Myriad nicht verstehen, weil ihr Verstand eine andere Richtung eingeschlagen hat. Wir wollen die Myriad nicht akzeptieren, weil sie sich von unserer Kraft und Energie ernähren Wie wollen die Myriad nicht respektieren, weil sie es auch nicht tun.
Der Schatten des Nordens
Der Legende nach gab es einst, als die Erde noch jung war, ein Meer, so hoch im Norden, dass das Licht über den Horizont sehen konnte. Man sagt, dass die Menschen all das, was sie an sich selbst verabscheuten, tief auf den Grund jenes Meeres schickten. Alle Sünde alles Schlechte, ethisch Falsche, Unmenschliche. Die dunkle Truhe der Schatten sank tief in den Abgrund. Und jedes mal, über all die Jahrhunderte hinweg, verbannten die Menschen all ihr Übel, für das sie sich schämten, in das Meer. Statt es zu akzeptieren oder zu verstehen, ängstigten sie sich vor ihren eigenen Schlechtigkeiten. Doch war es dem Meer mit der Zeit zu viel. Längst schon hatte sich das einst reine, klare Wasser in schwarze, böse, tote See verwandelt. Und das Meer spie eine Ausgeburt der Düsternis aus. Einen Schatten aus dem Norden. So hässlich und erschreckend war seine Existenz, dass jedes Auge wäre verbrannt. Vereint hatte es all das in sich, was die Menschen an sich selbst nie hatten ertragen können. Doch schenkte das tote Meer seinem Richter und Henker, den es zu seinen Peinigern aussandte, ein Aussehen, auf dass die Sterblichen ihm erliegen mochten. Verlieh ihm all das an Auftreten und Gestallt, dass Menschen zu duckmäuserischen Anbetern werden lassen sollte. Und die Rache ward entsendet und aus dem Schlund des Nimmersatten gebar sich der erste Myriad - Der Schatten des Nordens.
Es lodern Flammen in schwarzen Augen lichterloh. So wie das Meer, ist deine Seele schwarz und leer. Doch muss ich fort: ich sag "suerte" und Leb wohl.
Das Wasser soll dein Spiegel sein Erst wenn es glatt ist, wirst du sehen Wieviel Märchen dir noch bleibt Und um Erlösung wirst du flehen
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Myriad |
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